Zeichen-haft und Wunder-bar

  • 2. Samuel 11,26-12,15
  • Johannes 2,1-12
  • Markus 1,21-28

Man kann nicht viele Seiten in den Evangelien lesen, ohne einem Wunder zu begegnen. An solche Wunder zu glauben, fällt einigen von uns leicht und sie finden solche Geschichten sehr spannend. Anderen bereiten diese Geschichten eher Mühe.

Wenn du es einfach findest, an Wunder zu glauben, sind die Evangelien ein Schatz der Inspiration für dich. Aber ein großes Problem musst du trotzdem lösen: Die Wunder in den Evangelien erwecken eine Hoffnung, die im Leben der heutigen Menschen fast immer zerstört wird. Ein Beispiel: In Matthäus 9 liest man von einem kleinen Mädchen, das von den Toten auferweckt wird. Aber seit diesem Ereignis mussten Millionen von gläubigen, betenden Eltern verstorbene Kinder betrauern, ohne ein wunderbares Happyend zu erleben. Warum ist das so? In Matthäus 14 liest man von Fischen und Brot, die vermehrt werden, um Hungrige zu speisen. Aber wie viele Millionen von gläubigen, betenden Menschen sind seit jenem Tag langsam verhungert, ohne dass ein Wunder geschehen ist? Ist es nicht so, dass die Möglichkeit von Wundern unser Leiden nur noch schlimmer macht, weil Gott eingreifen könnte, es aber nicht tut? Noch schlimmer wird es, wenn selbstgerechte Menschen das Opfer auch noch beschuldigen, nicht genug Glauben zu haben.

Wenn du Wundern gegenüber skeptisch bist, trifft dich dieses Problem weniger. Aber du hast ein anderes, das nicht weniger gewichtig ist: Wenn du nicht vorsichtig bist, stehst du mit einer reduzierten Welt da, einer desillusionierten, mechanistischen Welt, wo das Unmögliche für immer unmöglich bleibt. Du kannst die Wundergeschichten in den Evangelien als dumme Legenden betrachten, kindische Fantasien, falsche Werbung oder betrügerische Propaganda. Aber indem du alles, was du als Aberglauben betrachtest, verbannst, verbannst du vielleicht auch allen Sinn und alle Hoffnung. Wenn du Wunder aussperrst, sperrst du dich womöglich ein – in ein geschlossenes mechanistisches System, eine kleine Box, wo die Existenz Gottes keinen grossen Unterschied auszumachen scheint.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit einer Antwort auf die Frage nach den Wundern, die sowohl für Skeptiker wie auch für an Wunder Glaubende offen bleibt: An die Stelle von Aussagen wie: „Ja, Wunder geschahen tatsächlich“, oder: „Nein, sie sind nicht wirklich passiert“, könnten wir eine Frage stellen: „Was passiert mit uns, wenn wir uns vorstellen, dass Wunder geschehen?” Vielleicht soll eine Wundergeschichte mehr tun, als uns über ein angebliches Ereignis aus vergangenen Zeiten zu informieren. Vielleicht hat sie eine andere Funktion, als dem Gläubigen irgendetwas zu beweisen.

Vielleicht soll eine Wundergeschichte unsere normalen Annahmen aufrütteln, unsere Vorstellungen über Gegenwart und Zukunft inspirieren und es uns ermöglichen, etwas zu sehen, was wir bisher nicht sehen konnten. Vielleicht ist das Wunder, das wirklich zählt, nicht jenes, das ihnen damals passiert ist, sondern dieses, das uns gerade jetzt passieren könnte, während wir über die Geschichte nachdenken.

Vielleicht können diese Geschichten – indem sie uns dazu herausfordern, unmögliche Möglichkeiten zu erwägen – unsere Vorstellungskraft ausdehnen. Sie könnten in uns die nötigen Visionen und die Energie freisetzen, selber schöpferisch aktiv zu werden und  neue Möglichkeiten für die Welt von morgen zu schaffen. Klingt das nicht ziemlich... wunderbar?

Betrachten wir das erste Wunder von Jesus im vierten Evangelium. Die Geschichte beginnt so: „Am dritten Tag war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa.“ Jesu Mutter bemerkt, dass dem Gastgeber der Hochzeit der Wein ausgegangen ist, und sie stupst Jesus an, etwas dagegen zu tun. Jesus lehnt ab. Aber Maria bezweifelt seinen Widerstand. Sie sagt den Dienern, sie sollen tun, was immer Jesus befiehlt.

Jesus weist die Diener auf einige  Steinkrüge in der Nähe – sechs im Ganzen. Sie enthalten Wasser für zeremonielle Reinigungen. Diese Waschungen bekunden die Absicht, als „reine Menschen“ zu leben im Gegensatz zu „unreinen Menschen“. Die Behälter sind riesig – jeder mit einer Kapazität von ungefähr hundert Litern. Aber sie sind leer. „Füllen Sie sie mit Wasser“, sagt Jesus. Und die Knechte machen sich an die Arbeit, holen 500-800 Liter Wasser und füllen die großen Behälter. Jesus weist sie an, eine Probe zu nehmen und sie dem Oberkellner zu geben. Er nimmt einen Schluck – und staunt! „Du hast den besten Wein bis zuletzt aufbewahrt!“ sagt er zum Bräutigam.

Johannes behauptet, dies sei das erste der Zeichen, durch welche Jesus seine Herrlichkeit offenbarte. Das Wort Zeichen ist wichtig. Zeichen be-zeichnen etwas. Sie haben eine Bedeutung. Oft erscheint das Wort Zeichen im Zusammenhang mit Wundern, die bei uns Staunen und Bewunderung auslösen. Also, nachdem wir unsere Phantasie durch eine vorgestellte Geschichte an einem fernen Ort in einer längst vergangenen Zeit erwärmt haben, lassen wir unsere angeregte Phantasie auf unser jetziges Leben, unsere heutige Welt wirken. Betrachten wir die Bedeutung des Zeichens! Beginnen wir, uns darüber zu wundern!

Inwiefern gleichen unsere Leben – wie auch unsere Religionen und unsere Kulturen – einem Hochzeitsbankett, bei dem der Wein ausgeht? Was ist es, das uns ausgeht? Was sind die steinernen Behälter in unserem Alltag – riesige, aber leere Gefäße, verwendet für religiöse Zwecke? Was würde es für diese leeren Behälter bedeuten, wenn sie gefüllt würden – mit Wein? Und warum so viel Wein? Kannst du dir vorstellen, was 800 Liter Wein in einem kleinen Dorf in Galiläa bewirken würden? Was könnte dieser Überfluss für eine Bedeutung haben? Was könnte es bedeuten, wenn Jesus Behälter, die dazu bestimmt waren, um das Reine vom Unreinen zu trennen, umfunktionieren würde? Und was könnte es bedeuten, wenn Gott das Beste bis zuletzt aufbewahrt?

Fragen wie diese erlauben uns, die Wundergeschichten als Zeichen und Wunder zu betrachten, ohne sie zu „bloßen Fakten“ auf der einen Seite oder „bloßem Aberglauben“ auf der anderen zu reduzieren. Sie motivieren uns, neue Sichtweisen zu entdecken, die zu neuen Handlungsweisen und so auch zu neuen Lebensweisen führen.

Im Markusevangelium ist das erste Wunder ein ganz anderes als im Johannesevangelium. Es geschieht in Kapernaum, dem Wohnort Jesu, am Sabbat in der Synagoge. Die Menschen haben sich versammelt und Jesus lehrt sie in seiner einmaligen Autorität. Plötzlich fängt ein Mann „mit einem unreinen Geist“ an zu schreien: „Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns zu zerstören? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“ Jesus befiehlt dem Geist, ruhig zu sein und den Mann zu verlassen. Der Geist schüttelt den Mann heftig und dann verschwindet er.

Heute würden wir den Mann wahrscheinlich als geistig oder emotional krank, von Ängsten geplagt, vielleicht sogar paranoid beschreiben, anstatt sein Leiden auf einen Dämon zurückzuführen. Wir würden vermuten, er leide unter einem chemischen Ungleichgewicht, einer psychischen Störung, einer neurologischen Erkrankung oder einem starken Delirium. Aber auch mit unserer anderen Diagnose und unserem anderen Verständnis vom menschlichen Verhalten können wir uns unsere Reaktion vorstellen, wenn durch Jesu spontane Therapiesitzung (die weniger als zehn Sekunden dauerte!) das psychische Gleichgewicht von diesem Mann wiederhergestellt würde.

Auch hier kann wieder festgestellt werden: Die Geschichte regt uns an, uns Fragen über unser eigenes Leben, unsere eigene Zeit zu stellen. Welche ungesunden, umweltschädlichen Geister beunruhigen uns als Einzelpersonen und als Volk? Welche Ängste, falschen Überzeugungen und emotionalen Ungleichgewichte hausen in uns und verzerren unser Verhalten? Welche unreinen oder ungesunden Denkmuster, Wertesysteme und Ideologien wohnen bei uns, unterdrücken uns und besitzen uns als Gemeinschaft oder Kultur? Was in uns fühlt sich bedroht und eingeschüchtert durch die Anwesenheit von einem äußerst „reinen“ oder „heiligen“ Geist oder durch eine Gegenwart wie die von Jesus? Auf welche Weise könnte jener Mann unsere ganze Gesellschaft symbolisieren? Auf welche Weise könnte unsere Gesellschaft ihre Gesundheit, ihr Gleichgewicht, ihre Vernunft, ihren „reinen Geist“ an etwas Unreines oder Ungesundes verlieren?

Und was würde es bedeuten, wenn der Glaube an die Kraft Gottes uns von diesen ungesunden, unausgewogenen, selbstzerstörerischen Störungen befreien würde? Wagen wir zu glauben, dass wir frei werden könnten? Wagen wir darauf zu vertrauen, dass wir wieder gesund werden könnten? Lässt es unsere Vorstellung zu, dass ein solches Wunder uns passieren könnte – noch heute?

Es gibt eine Zeit und einen Ort für Diskussionen darüber, ob diese oder jene Wundergeschichte buchstäblich passierte. Aber in diesem literarischen Ansatz wenden wir uns von Argumentationen über die Geschichtlichkeit zu Gesprächen über Bedeutung. Wir akzeptieren, dass Wundergeschichten absichtlich auf der Linie zwischen glaubwürdig und unglaubwürdig stehen. Dabei werfen sie uns aus dem Gleichgewicht, damit wir in einer neuen Weise sehen, denken, fühlen und uns Vorstellungen machen.

Nachdem Menschen Jesus begegnet sind, begannen sie wilde, inspirierende Geschichten wie diese zu erzählen... Geschichten voll von wesentlichen Details, tiefer Bedeutung und kühner Hoffnung. Sie erlebten, wie ihre Leere bis zum Überlaufen gefüllt wurde. Sie merkten, wie ihre lebenslange Besessenheit mit Reinem und Unreinem durch eine überreiche, überragende Freude ersetzt wurde. Sie merkten, wie ihre Angst und Paranoia verschwanden und an ihrer Stelle Glauben und Mut wuchsen. Sie erlebten, wie ihre Blindheit aufhörte, und sie fingen an, alles in einem neuen Licht zu sehen. Darum mussten diese Geschichten erzählt werden. Und deshalb müssen sie heute erzählt werden. Ob du an wortwörtliche Wunder glauben kannst oder nicht, der Glaube bewirkt immer noch Wunder.

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle eine Geschichte von einem Moment, in dem du das Gefühl hattest, ein Wunder erlebt zu haben, oder als du für ein Wunder gebetet hast, das nie eintraf.
  3. Wie reagierst du auf den literarischen Ansatz, der nach Sinn und Bedeutung in Wundergeschichten sucht? Kannst du ihn auf andere Wundergeschichten anwenden?
  4. Für Kinder: Wenn du eine magische Kraft erhalten könntest, was wäre das und warum?
  5. Werde aktiv: Versuche während dieser Woche, diese beiden Wundergeschichten im Kopf zu halten, und schaue, ob sie neue Erkenntnisse bringen über die Situationen in denen du dich befindest.
  6. Meditiere: Stell dir in der Stille das Bild eines leeren Zeremonie-Behälters aus Stein vor,  der mit Wasser gefüllt wird, das sich zu Wein verwandelt. Höre den Klang des Wassers, das bis zum Rand gefüllt wird. Betrachte die Veränderung der Wasserfarbe und verspüre die Veränderung seines Geschmacks, während es zu Wein verwandelt wird. Hör das Geräusch von Menschen, die im Hintergrund feiern. Setz dich hin und meditiere die Worte leer, voll und verwandelt. Nimm wahr, welches Gebet in deinem Herzen Gestalt annimmt.