Verheissenes Land, verheissene Zeit

  • Dan 7,9-28
  • Jes 40,9-11
  • Lk 1,67-79

Lebendig zu sein bedeutet, sich nach etwas zu sehnen, zu hoffen, zu träumen. Dies zeigt sich auch in der Bibel, die ein Buch der Sehnsucht, der Hoffnungen und Träume ist! Ihre Geschichte beginnt mit Gottes Sehnsucht nach einer guten und wunderschönen Welt, von der wir ein Teil sein dürfen. Doch schon bald berichtet sie auch davon, dass in einigen von uns das Verlangen nach der Macht entstanden ist, andere zu töten, zu versklaven und zu unterdrücken. Die Versklavten und Unterdrückten wiederum hoffen auf Befreiung. Heimatlos umherziehend sehnen sie sich nach einem verheissenen Land, in dem sie sich niederlassen können. Festansässig geworden träumen sie von einer verheissenen Zeit, in der sie nicht mehr durch interne Parteibildungen zerrissen, von korrupten Eliten beherrscht und von stärkeren Nachbarstaaten unterjocht werden…

Sehnsucht, Hoffnungen und Träume inspirieren unser Handeln. Das ist es, was sie vom schlichten Wünschen unterscheidet. Denn Wünschen ist ein Ersatz für unser Handeln. Es schafft eine Art von regungsloser Schönmalerei, die Menschen in einem Nebel von Selbstgefälligkeit festhält und erstarren lässt: „Es wird schon alles gut herauskommen. Weshalb arbeiten, sich abmühen und aufopfern oder die nächsten Schritte planen?“ – Wir können erraten, was Leuten passiert, die niemals arbeiten, sich abmühen und aufopfern oder die nächsten Schritte planen! Es kommt normalerweise nicht so heraus, wie sie es wünschen.

Im Gegensatz dazu bestimmen unsere Sehnsucht, unsere Hoffnungen und Träume unser jetziges Verhalten. Wenn ein Mädchen hofft, eines Tages Ärztin zu werden, wird sie jetzt intensiv lernen und sich für ein Medizinstudium vorbereiten. Wenn ein Knabe davon träumt, einmal Meeresbiologe zu werden, wird er jetzt Zeit am Meer verbringen und den Umgang mit Schnorchel und Taucherflasche trainieren. Ihre Zukunftshoffnungen bestimmen ihr Verhalten in der Gegenwart. Sie bringen ihr heutiges Leben in Einklang mit ihren Hoffnungen für morgen. So wird ihr Leben geformt durch ihre Hoffnung. Hätte ihre Sehnsucht aber keine konkreten Auswirkungen, würde es sich nicht um Hoffnung handeln, sondern nur um schöne Wünsche.

In der Bibel haben die Propheten die faszinierende Aufgabe, Hüter der besten Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume ihrer Gesellschaft zu sein. Es gehört zu ihrem Auftrag, die Leute dazu herauszufordern, im Einklang mit diesen Wünschen, Sehnsüchten und Träumen zu leben. Und wenn sie beobachten, dass einige ein zerstörerisches Leben führen, warnen sie diese, indem sie ihnen bildhaft aufzeigen, wohin ein solch zerstörerisches Verhalten in Zukunft führen wird.

Eine der wichtigsten Sammlungen von prophetischen Aussagen ist das Buch Jesaja. Die meisten Gelehrten sind sich heute darüber einig, dass dieses Buch mindestens auf drei Personen zurückgeht und auf eine längere Entstehungszeit zurückblickt (in der Tradition allerdings ist ihr gemeinsames Werk einem einzigen Autor zugeschrieben worden). Die ersten 39 Kapitel von Jesaja sind im südlich gelegenen Königreich Juda angesiedelt – kurz bevor das nördliche Reich Israel von den Assyrern erobert und neu besiedelt wurde. In dieser Zeit erkannte der Prophet einen starken spirituellen Zerfall und eine immer grösser werdende Selbstzufriedenheit auch in seinem eigenen Volk. Deshalb warnte er seine Leute, dass ein solches Verhalten zu Niederlage und Untergang führen würde. Und dieser Untergang kam dann tatsächlich durch die Babylonier, die 587 v.Chr. Juda eroberten. Nach ihrer Invasion führten sie viele Überlebende in die Gefangenschaft nach Babylon. An diese Deportierten aus dem judäischen Königreich richten sich die Kapitel 40-55 – oft zweiter Jesaja genannt. Sie erwecken in ihnen die Hoffnung, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren und sie wieder aufbauen können.  Und auch dies geschah schon bald darauf unter der Führung von Esra und Nehemia (ab 538 v.Chr). Diese Zeit des Wiederaufbaus ist schliesslich der Kontext des dritten Jesaja, d.h. der Kapitel 56-66.

Für Leser späterer Generationen verschmelzen Bestandteile dieser drei ursprünglich verschiedenen Umstände zu einem einzigen reichhaltigen Rezept der Hoffnung, dessen Bildhaftigkeit noch heute unsere Vorstellungskraft beflügelt.

Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern

und Winzermesser aus ihren Lanzen.

Man zieht nicht mehr das Schwert,Volk gegen Volk,

und übt nicht mehr für den Krieg.

Jes 2,4

 

Doch aus dem Baumstumpf Isais [Davids Vater] wächst ein Reis hervor,

ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.

Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm:

der Geist der Weisheit und der Einsicht,

der Geist des Rates und der Stärke,

der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht…

Dann wohnt der Wolf beim Lamm,

der Panther liegt beim Böcklein.

Kalb und Löwe weiden zusammen,

ein kleiner Knabe kann sie hüten…

Man tut nichts Böses mehr

und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg;

denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn,

so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.

Jes 11,1-2.6.9

 

Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze;

das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.

Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,

er bringt den Völkern das Recht.

Er schreit nicht und lärmt nicht

und lässt seine Stimme nicht auf der Strasse erschallen.

Das geknickte Rohr zerbricht er nicht,

und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;

ja, er bringt wirklich das Recht.

Jes 42,1-3

Jesajas Beschreibung dieser besseren Zukunft war so inspirierend, dass Jesus und seine frühen Nachfolger Jesaja mehr als jeden anderen Schriftsteller zitierten. Aber auch viele andere Propheten griffen diese wundervolle Vision der Hoffnung auf und malten sie mit eigenen Farben aus. In Ezechiels Vision wird das steinerne Herz der Menschen ersetzt durch ein Herz aus Fleisch. Nach Maleachi wird sich das Herz der Eltern ihren Kindern zuwenden und das der Kinder wieder ihren Eltern. Joel beschreibt, wie der Geist Gottes über die gesamte Menschheit ausgegossen wird – über Junge und Alte, Männer und Frauen, Juden und Heiden. Amos malt eine lebhafte Szene, in der Gerechtigkeit sich wie ein Fluss ergiesst und die tiefsten Stellen der Erde erfüllt. Und Daniel stellt sich bildhaft vor, wie die bestialischen Reiche der Gewalt überwunden werden durch einen einfachen, unbewaffneten Menschen, eine neue Generation der Menschheit.

In den Jahrhunderten zwischen der Zeit der Propheten und der Geburt Jesu verstummten diese prophetischen Träume nie vollständig. Aber sie erfüllten sich auch nie vollständig. Zwar verbesserten sich die Umstände für die Juden unter der Herrschaft der Perser. Aber sie waren noch lange nicht so gut, wie die Propheten vorhergesagt hatten. Und nach den Persern übernahmen Alexander der Grosse und dann die Seleukiden die Herrschaft über die Region. Doch dann konnten sich die Juden für eine Weile von ihren Unterdrückern befreien. Aber ihre Unabhängigkeit war nur von kurzer Dauer und der Traum der Propheten blieb unerfüllt. Als nächstes errangen die Römer die Vormachtstellung, unterwarfen und erniedrigten die Juden und stellten so deren Hoffnung auf die Probe wie niemals zuvor. Doch ihr Traum lebte weiter. Er blieb lebendig in Menschen wie Elisabeth und Zacharias, Maria und Joseph, Anna und Simeon und in demütigen Schafhirten, die am Rande der Gesellschaft lebten.

Lebendig zu sein im Abenteuer Jesu bedeutet, einen Traum zu haben, eine Hoffnung auf die Zukunft. Es bedeutet, diese Zukunftshoffnung in Taten zu übersetzen und fortan im Licht dieser Hoffnung in der Gegenwart zu handeln – trotz aller Enttäuschungen, Rückschläge und Verzögerungen. So lasst uns diese Adventszeit damit beginnen, eine Kerze für die Propheten anzuzünden, die ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume mit anderen geteilt haben. Lasst uns ihr Feuer nähren und es in unseren Herzen am Brennen erhalten, gerade jetzt.

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle von einer Situation, in der du Hoffnung bewahrt oder verloren hast.
  3. Wie reagierst du auf die Bilder von Jesaja? Wie würdest du einige dieser antiken Bilder aus dem Nahen Osten übersetzen in die Bilderwelt von heute?
  4. Für Kinder: Was möchtest du einmal sein, wenn du gross bist?
  5. Werde aktiv: Halte diese Woche Ausschau nach Enttäuschung oder Zynismus in deinem eigenen Denken. Richte deinen Zynismus gegen sich selbst und bezieh Stellung für eine prophetische Hoffnung.
  6. Meditiere: Zünde eine Kerze an und wähle eines der oben genannten prophetischen Bilder. Bleibe bewusst in Gottes Gegenwart und bewahre dieses Bild in deinem Herzen. Lass dich davon zu einem einfachen Gebet inspirieren. Vielleicht willst du es auch laut aussprechen?