Jesus und das einfache Volk

  • Hesekiel 34,1–31
  • Lukas 5,17–32; 18,15–19,9

Die meisten menschlichen Gesellschaften lassen sich in die zwei Gruppen Elite und einfaches Volk unterteilen. Die Elite besteht aus den ein bis fünf Prozent an der Spitze. Sie hat und hortet das meiste Geld, die meisten Waffen, die grösste Macht, den grössten Einfluss und die besten Möglichkeiten. Sie bestimmt die Regeln und oft manipuliert sie das Spiel zum Schutz der eigenen Interessen. Sie schmiedet Allianzen zwischen Regierung, Wirtschaft, Religion, Medien, Kunst, Wissenschaft und Militär. Infolgedessen hat sie treue Verbündete in allen Bereichen der Gesellschaft und sie belohnt diese Verbündeten, damit sie treu bleiben.

Ganz unten befindet sich das einfache Volk – in den Evangelien die Menge genannt. Von ihm stammen die billigen Arbeitskräfte in einem System, das von der Elite geführt wird. Es arbeitet für wenig Lohn, hat wenig Sicherheit, wenig Prestige und wird kaum bemerkt. Es lebt in geografisch abgelegenen Regionen oder in sozial auf Distanz gehaltenen Armenvierteln. So kann es sein, dass das Volk für die Elite lange Zeit überraschend unsichtbar und unbedeutend bleiben kann.

In der Mitte, zwischen der Elite und der Menge, befinden sich jene treuen Verbündeten, die als Mittler zwischen den wenigen über ihnen und den vielen unter ihnen wirken. Sie verdienen ein wenig mehr Geld als die Masse und leben in der Hoffnung, dass sie oder ihre Kinder die Pyramide emporsteigen und näher zur Elite rücken können. Aber in der Regel wünschen die über ihnen nicht zu viel Konkurrenz von unten und stellen deshalb sicher, dass die Pyramide nicht zu leicht bestiegen werden kann.

Diese Dynamik herrschte schon zur Zeit Jesu und sie war ihm sehr klar bewusst. Denn in seinen Gleichnissen machte er ständig Menschen aus dem Volk zu Helden: Tagelöhner, Kleinbauern, Hausfrauen, Sklaven und Kinder. Dabei nahm er auch die verzwickte Lage derjenigen wahr, die wir das mittlere Management nennen würden: Verwalter, Zöllner und ihre Mitarbeiter, die im Interesse der Reichen und Mächtigen das Geld von den Armen und Machtlosen eintrieben. Und in Bezug auf die Elite stellte Jesus die Falschheit und Gier bloß – vor allem das Verhalten der religiösen Führer, die eine gemütliche und lukrative Allianz mit der Gruppe der Reichen genossen.

Wenn Jesus sich mit den sozialen Realitäten seiner Zeit befasste, stellte er also ständig die gewöhnliche Herrrschaftspyramide auf den Kopf. Dies verwirrte selbst seine Jünger.

Nehmen wir zum Beispiel die Begebenheit, in der eine Gruppe von Eltern ihre kleinen Kinder zu Jesus brachte, damit er sie segne (Markus 10,13–16). Die Jünger wollten diese einfachen Leute wegschicken, weil ihr großer Lehrer wichtige Orte zu besuchen und wichtige Personen zu treffen hatte. Aber Jesus tadelte sie: „Lasst diese Kinder zu mir kommen”, sagte er, „denn solchen gehört das Reich Gottes.”

Oder betrachten wir den Moment, wo Jesus und seine Jünger durch Samaria wanderten – eine Region, die „aufrichtige Leute“ mieden, weil ihre Bewohner als religiös und kulturell „unrein“ (Johannes 4,4–42) galten. Jesus beschloss außerhalb der Stadt zu warten, während seine Gefährten in die Stadt gingen, um das Mittagessen zu kaufen. Als sie zurückkamen, saß Jesus an einem Brunnen, in einem geistlichen und theologischen Gespräch mit einer Samariterin vertieft – einer Frau mit einem fragwürdigen Ruf. Jesus respektvoll mit dieser Frau reden zu sehen, war für die Jünger ein dreifacher Schock: 1) Männer sprachen normalerweise nicht mit Frauen wie mit gleichwertigen Wesen. 2) Juden gaben sich normalerweise nicht mit Samaritern ab und 3) „Saubermänner“ verkehrten normalerweise nicht mit solchen, die als moralisch befleckt galten.

Bei einer weiteren Gelegenheit gingen Jesus und seine Jünger, begleitet von einer großen Menschenmenge, an einem Blinden am Wegrand vorbei (Markus 10,46–52). Der Mann wurde als randständig und unbedeutend betrachtet – nur ein weiterer Bettler. Die Leute um ihn herum versuchten, ihn zu beruhigen, als er anfing, um Gnade zu schreien. Aber für Jesus war dieser Mann wertvoll. Das gleiche geschah, als Jesus auf dem Weg war, die Tochter eines Synagogen-Beamten namens Jairus zu heilen (Markus 5,21–43). Unterwegs wurde Jesus von einer Frau berührt, die ein peinliches „Frauenleiden“ hatte, durch das sie „unrein“ geworden war. Sie sah sich nicht einmal als wichtig genug, um Jesus um Hilfe zu bitten. Doch Jesus heilte sie und bekräftigte öffentlich ihren Wert. Anschliessend heilte er auch das Mädchen des Beamten. Kleine Kinder, eine Samariterin, ein Mann, den man heute als „behindert“ und „arbeitslos“ einstufen würde, eine ängstliche und „unreine“ Frau, ein kleines Mädchen... – sie alle waren für Jesus wichtig.

Es waren aber nicht nur schwache oder gefährdete Menschen, die Jesus für wichtig erachtete. Geradezu skandalös war es, dass er auch die Berühmt-Berüchtigten und die als Sünder Geltenden, als wertvoll anerkannte. Einmal wurden Jesus und seine Gefährten beispielsweise zu einem Festessen eingeladen (Lukas 7,36–50). Stell dir den Schock vor, als eine Frau, die als Prostituierte bekannt war, sich ungebeten unter die Gäste schlich. Stell dir die Abscheu der Gäste vor, als diese Frau zu Jesus kam und ihm Ehre erwies, indem sie seine Füße mit ihren Tränen wusch und sie mit ihren Haaren trocknete. Als im Gastgeber erwartungsgemäß abschätzige Gedanken aufstiegen – sowohl über die Frau als auch über Jesus –, drehte Jesus den Spiess um und erhob die Frau zum Vorbild, das alle am Bankett nachahmen sollten.

Dieser Gastgeber war ein Mitglied der Pharisäer, einer religiösen Reformbewegung zur Zeit Jesu. Die Pharisäer waren fromm, anspruchsvoll und religiös verständig. Sie standen in enger Beziehung zu den „Schriftgelehrten“. Heute würden sie von einigen als „hyperorthodox“ oder „fundamentalistisch“ eingestuft werden. Aber damals wurden sie von den meisten als reine und treue Menschen betrachtet, als moralisches Rückgrat der Gesellschaft.

Von Anfang an schienen die Pharisäer seltsam von Jesus fasziniert zu sein. Doch als Jesus einmal behauptete, dass die Moral seiner Jünger die der Pharisäer übertreffen müsse, wird sie das stark verunsichert haben. Wie könnte jemand aufrichtiger sein als die Pharisäer? Weiter beunruhigte sie Jesus, indem er ihre Praxis ablehnte, jede Aktion eines Menschen als rein oder unrein, biblisch oder unbiblisch, legal oder illegal zu werten. Zudem vekehrte er nicht nur mit „unreinen“ Menschen – er schien ihre Gesellschaft gar zu genießen! Die Pharisäer wussten einfach nicht, was sie mit diesem Mann anfangen sollten. So stellten sie ihm immer wieder Fragen in der Hoffnung, ihn bei einer Fehlaussage in die Falle zu locken.

Einmal kritisierten sie Jesus, weil er jemanden am Sabbat heilte, also am siebten Tag der Woche, wenn nach Gottes Gesetz keine Arbeit getan werden sollte (Lukas 14,1–6). Darauf stellte Jesus ihnen eine Frage: Wenn dein Sohn – oder selbst dein Ochse – am Sabbat in ein Loch fällt, wartest du bis zum nächsten Tag, um ihn zu retten? Indem er sich also auf ihre Menschlichkeit berief – Freundlichkeit ihren eigenen Kindern oder gar ihren eigenen Lasttieren gegenüber –, drückte er aus, dass auch bei Gott mindestens dieses Niveau der „Menschlichkeit“ zu finden sei. Dabei behauptete Jesus, dass grundlegende menschliche Güte und Mitgefühl wichtiger sind als religiöse Regeln und Gesetze. „Der Sabbat wurde für Menschen geschaffen“, sagte Jesus bei einer anderen Debatte mit den Pharisäern (Markus 2,27). „Menschen wurden nicht für den Sabbat geschaffen.“

Jesus liess oft die verurteilende Sprache der Pharisäer auf sie zurückfallen (Matthäus 23). „Ihr reist über Land und Meer, um auch nur einen einzigen Anhänger zu gewinnen,“ sagte er, „und wenn ihr einen gewonnen habt, macht ihr ihn zu einem Anwärter auf die Hölle, der doppelt so schlimm ist wie ihr! Ihr reinigt das Äußere eurer Becher und Schüsseln, ihr Inhalt aber zeugt von eurer Raubgier und Maßlosigkeit. Ihr seid wie weißgetünchte Gräber: Von außen sehen sie schön aus, innen aber sind sie voll von Totengebeinen und von Unreinheit aller Art!“

Der Kontrast zwischen Jesus und den Pharisäern war nirgendwo deutlicher als in seiner Haltung gegenüber dem einfachen Volk. Einmal schauten die Pharisäer das Volk an und sagten: „Diese Menge kennt die Heiligen Schriften nicht – verflucht ist sie“ (Johannes 7,49). Aber „als Jesus die Scharen von Menschen sah, ergriff ihn tiefes Mitgefühl; denn sie waren erschöpft und hilflos wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Matthäus 9,36).

Mit wenigen Ausnahmen sehen die Pharisäer in den Evangelien hässlich aus. Ihr Porträt in den Evangelien hat keine Ähnlichkeit mit den ehrenhaften und klugen Pharisäern, wie sie in der jüdischen Geschichte aus der Zeit kurz nach der Abfassung der Evangelien dargestellt sind. Ob ihr Porträt in den Evangelien genau war oder nicht, Christen in späteren Jahrhunderten verwendeten die negative Darstellung der Pharisäer, um alle Juden zu stereotypisieren und zu verteufeln. Die Folgen waren unbeschreiblich schrecklich. Die Christen, die diese antisemitischen Klischees bildeten, glichen niemandem mehr als den heuchlerischen und richtenden Pharisäern, wie sie in den Evangelien dargestellt sind.

Es gibt immer das einfache Volk ganz unten, das an den Rand gedrängt, zum Sündenbock gemacht, gemieden, ignoriert und von der Elite an der Spitze vergessen wird. Und es gibt immer welche in der Mitte, die zwischen den beiden Gruppen hin- und hergerissen werden. Im Abenteuer von Jesus lebendig zu sein bedeutet, dem einfachen Volk zur Seite zu stehen, auch wenn das heißt, zusammen mit ihm an den Rand gedrängt, kritisiert und missverstanden zu werden.

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee aus dem heutigen Kapitel hat dich besonders fasziniert, provoziert, gestört, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle eine Geschichte von einer Zeit, in der du dich wie ein Teil des einfachen Volkes gefühlt hast oder dich wie ein Pharisäer verhalten hast.
  3. Wie reagierst du auf die Geschichten in diesem Kapitel, in denen Jesus sich auf die „Menge“ und die Pharisäer einlässt?
  4. Für Kinder: Denk an eines der Kinder in deiner Klasse, das am wenigsten beliebt ist oder am wenigsten Freunde zu haben scheint. Was meinst du, wünscht sich das Kind, dass andere Kinder für ihn oder sie tun würden?
  5. Werde aktiv: Suche eine Gelegenheit in dieser Woche, um Zeit mit einem Mitglied der „Menge“ zu verbringen.
  6. Meditiere: Denk an eine Gruppe von Menschen, von denen du dich normalerweise abwenden würdest. Stell sie dir in der Stille vor, und wiederhole diese Worte: „Sie sind erschöpft und hilflos wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Beachte, was in deinem Herzen passiert, wenn du dies tust.