Jesus, Gewalt und Macht

  • Jesaja 42,1-9; 53-1-12
  • Matthäus 16,13-17,9

Eines Tages nahm Jesus seine Jünger mit auf eine Exkursion. Es gab etwas, das sie lernen sollten und es gab einen perfekten Ort, wo dies geschehen konnte. Deshalb machte er mit ihnen eine Wanderung nach Cäsarea Philippi, das etwa 40km nördlich von ihrem Ausgangspunkt lag.

Diese Stadt war ein regionales Zentrum im Römischen Reich. Sie lag direkt neben einem gewaltigen Berg an der Stelle, wo eine berühmte Quelle dem Fuss dieses Bergs entspringt. Bevor die Römer das Gebiet besetzten, war dieser Ort unter dem Namen Paneas bekannt. Denn er war als Kultort dem kanaanäischen Gott Baal und später dem griechischen Gott Pan geweiht. Verehrer dieser Götter haben kunstvolle Nischen in den Felsen gehauen, die heute noch zu sehen sind. Dort stellten sie Statuen von Pan und anderen griechischen Gottheiten auf. Paneas war zudem bekannt als Ort einer vernichtenden militärischen Niederlage. Hier wurde die entscheidende Schlacht geschlagen, die zur Herrschaft der Seleukiden (eine griechische Herrscherdynastie, die auf Alexander den Grossen folgte) über das gesamte Gebiet geführt hatte.

Später übernahmen die Römer die Herrschaft von den Griechen. Nach dem Tod von Herodes dem Grossen – dem regionalen römischen Machthaber – wurde dessen Sohn Herodes Philippus Herrscher über die Region um Paneas. Er war es, der den Namen der Stadt in Cäsarea Philippi umwandelte. Mit dem ersten Namen erwies er Cäsar Augustus, dem Römischen Kaiser, die Ehre. Mit dem zweiten Namen ehrte er sich selbst und unterschied diesen Ort zudem von der Küstenstadt, die Cäsarea Maritima hiess. Die Stadt war – so könnte man auch sagen – Philipps Kaiserstadt.

Stell dir vor, wie es wäre, mit Jesus und seiner Truppe diese Kaiserstadt zu betreten… Es wäre etwa so, wie wenn heute ein jüdischer Leiter seine Nachfolger nach Auschwitz bringt, ein japanischer Leiter nach Hiroshima, ein Indianerhäuptling nach Wounded Knee oder ein palästinensischer Leiter zu den israelischen Sperranlagen. Dort, im Schatten des Berges mit den Götzen in ihren kunstfertig gehauenen Höhlen, in der Gegenwart von all diesen schrecklichen Assoziationen, stellt Jesus seinen Jüngern eine sorgfältig formulierte Frage: „Was sagen die Menschen, wer der Sohn des Menschen ist?“

Wir können uns vorstellen, dass diese eigenartige und selbstbewusste Frage eine peinliche Stille nach sich gezogen hat. Doch schon bald löst sich die Spannung und die Antworten sprudeln nur so hervor: „Einige Leute sagen, du seist Johannes der Täufer, der von den Toten auferstanden sei. Andere sagen, Elija. Und wieder andere sagen, du seist Jeremia oder ein anderer der Propheten.“

Daraufhin spitzt Jesus die Frage zu: „Und wie ist das mit euch? Was sagt ihr, wer ich bin?“ – Erneute Stille. Doch dann spricht Petrus, einer der Anführer unter ihnen: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“

Für unsere Ohren klingt es, als hätte Petrus eine theologische Aussage gemacht. Doch in der damaligen Situation hat dieses Statement auch eine mindestens ebenso starke politische Bedeutung. Christos ist die griechische Übersetzung für das hebräische Wort Messias und bedeutet in etwa: „der dazu gesalbt ist, ein befreiender König zu sein“. Im Römischen Reich von einem „befreienden König“ zu sprechen, war äusserst gefährlich – ganz besonders in einer Stadt, die den Namen des Kaisers trägt. Indem Petrus Jesus als Christus bezeichnet, sagt er: „Du bist der Befreier, den uns Gott vor langer Zeit verheissen hat. Du bist der, auf den wir so lange gewartet haben. Du bist der König Jesus, der uns vom König Cäsar befreien wird.”

Ähnlich schillernd ist die Bezeichnung Sohn des lebendigen Gottes in dieser Situation. Cäsaren nannten sich selbst Göttersöhne. Das Bekenntnis von Petrus stellt diesen Anspruch als falsch und abgöttisch dar. Stattdessen bezeugt er, dass in Wahrheit Jesus derjenige ist, welcher vom wahren und lebendigen Gott mit Autorität ausgerüstet wurde. Die griechischen und römischen Götter mögen in ihren kleinen Nischen im Berg dazu angerufen werden, der Herrschaft der Cäsaren beizustehen. Doch der wahre und lebendige Gott steht hinter der befreienden Autorität Jesu.

Jesus antwortet Petrus, dass Gott ihm dies offenbart habe, und beschreibt bildhaft die grundlegende Rolle, die Petrus in seiner Mission spielen soll. Dieses gemeinsame Projekt, kann nach Jesus selbst durch die die Pforten der Hölle – d.h. die Machtstrukturen und Herrschaftszentren des Bösen – nicht überwältigt werden. Stell dir wieder die Wirkung dieser Worte in einem politisch so stark aufgeladenen Umfeld vor!

Die Exkursion in die Kaiserstadt Philippi Cesarea hat in den Jüngern ganz gewiss Hoffnungen und himmelhohe Erwartungen an Jesus geweckt. Doch Jesus bringt sie abrupt  auf den Boden zurück. Er erklärt ihnen, dass er bald nach Jerusalem ziehen werde, wo er von den religiösen und politischen Führern ihres Landes gefangen genommen, gefoltert und getötet werde. Danach werde er auferstehen. Petrus scheint das Happyend nicht zu hören, sondern nur die schreckliche Mitte. Deshalb antwortet er, genauso, wie auch wir wohl geantwortet hätten – mit Erschrecken und Leugnung: „Niemals, Herr! Dies soll dir niemals widerfahren (Mt 16,22)!“

Kannst du Petrus‘ Verwirrung nachempfinden? Soeben hat Jesus gesagt, dass Petrus es kapiert habe, dass Jesus tatsächlich der befreiende König ist, der Anführer der Revolution, vom lebendigen Gott gesalbt und dazu autorisiert, die Gefangenen freizusetzen. Wenn das wahr ist, dann gibt es etwas, das Jesus ganz sicher nicht passieren kann – er kann doch nicht  bezwungen werden. Er ist es, der besiegt und gefangen nimmt. Ganz gewiss ist nicht er der, welcher besiegt und gefangen genommen wird. Er muss derjenige sein, der seine Feinde foltert und tötet, sicher nicht umgekehrt. Deshalb widerspricht Petrus und sagt zu Jesus: „Hör auf mit diesem Unsinn! Das kann niemals passieren!“

Doch Jesus dreht sich um zu Petrus und antwortet mit einer Aussage, die wie ein gewaltiger Peitschenhieb gewirkt haben muss: „Geh fort, hinter mich, Satan!“ Was für eine unglaubliche Kehrtwende! Soeben bezeichnete Jesus Petrus noch als gesegneten Empfänger von Gottes Offenbarung. Doch nun stellt er ihn als Sprachrohr der dunklen Seite hin. Eben noch nannte Jesus Petrus den grundlegenden Führer einer Bewegung, welche selbst durch die Pforten der Hölle nicht überwunden wird. Nun identifiziert er ihn als Knecht der Hölle. Spürst du die Qual dieses Moments?

Wie die meisten seiner Landsleute wusste Petrus mit unzweifelhafter Sicherheit, dass Gott einen Messias senden würde, der einen bewaffneten Widerstand anführen würde, um die römische Besatzungsmacht mit all ihren Kollaborateuren zu besiegen und zu vertreiben.

Doch Jesus widerspricht: So zu denken sei menschlich, satanisch, konträr zu Gottes Absicht. Schon von Anfang an hat Jesus gelehrt, dass die Gewaltlosen die Erde erben werden. Gewalt kann Gewalt nicht besiegen. Hass kann Hass nicht überwinden. Furcht triumphiert nicht über Furcht, Herrschaft nicht über Herrschaft. Gottes Wege sind anders. Gott muss seinen Sieg durch die Niederlage hindurch erringen, Ehre durch Schande hindurch, Stärke durch Schwachheit, Herrschaft durch Sklaverei und Leben durch den Tod hindurch. Die sauber zurechtgelegten Überzeugungen, die Petrus‘ ganzes Leben bisher geprägt haben, werden durch diese paradoxe Botschaft bedroht. Dies ist kein Perspektivenwechsel, der schnell und einfach geschieht!

Doch ist nicht genau dies der Grund, weshalb ein Lehrmeister seine Schüler auf eine Exkursion mitnimmt? Indem er die Schüler von ihrem vertrauten Umfeld löst, kann er sie aus ihren gewöhnlichen Denkmustern befreien. Indem er sie an einen neuen Ort mitnimmt, kann der Lehrer seinen Schülern helfen, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, eine neue Perspektive wahrzunehmen.

Es dauerte keine Woche, bis Jesus seine Schüler wieder auf eine Exkursion mitnahm – diesmal auf die Spitze eines Berges. Dort hatten sie eine Vision von Jesus, in der er – von Herrlichkeit erleuchtet – mit zwei der grössten Führer in der jüdischen Geschichte redete. Wieder war Petrus so kühn, das Wort zu ergreifen. Indem er anbot, für die drei grossen Gestalten drei Schreine zu errichten, erhob er Jesus auf dieselbe Stufe mit dem grossartigen Befreier Moses und dem grossartigen Propheten Elija. Diesmal wurde Petrus von Gottes eigener Stimme zurechtgewiesen als wollte sie sagen: „Mose und Elija waren gut für ihre Zeit, aber mein geliebter Sohn Jesus steht auf einer ganz anderen Stufe. Er offenbart mein wahres Innerstes in einer einmaligen und auf eine noch nie dagewesene Weise. Hört deshalb auf ihn!“

Mose der Gesetzgeber und Elija der Prophet, so grossartig sie waren, waren in einem wichtigen Punkt anders als Jesus: Sie beide hatten in Gottes Namen Gewalt angewendet. Jesus aber wird in Gottes Namen Gewalt erdulden und auf diese Weise wirklich überwinden. Aus diesem Grund sprach er, als sie vom Berg herabstiegen, noch einmal von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen – eine andere Strategie für eine andere Art von Sieg.

Auf vielfältige Weise sind wir alle wie Petrus. Wir reden mit grosser Einsicht im einen Moment und machen uns im anderen total zu Narren. Wir haben keine Ahnung davon, wie viele unserer frommen und populären Annahmen in Wahrheit Illusionen sind. Wir wissen nicht, wie wenig wir wissen, und wir haben keine Vorstellung davon, wie viele unserer Ideen falsch sind. Wie Petrus mögen wir die richtigen Worte gebrauchen, um Jesus zu beschreiben – Christus, Sohn des lebendigen Gottes. Aber wir verstehen sein Herz noch nicht, seine Weisheit, seinen Weg. Aber das geht in Ordnung. Petrus war noch am Lernen – so auch wir. Letztlich ist ein Leben mit Jesus eine grosse Exkursion, die wir gemeinsam unternehmen. So lasst uns weiterhin unterwegs bleiben! Bleiben wir unterwegs. Bleiben wir auf dem Weg.

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  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
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  5. Werde aktiv: Halte in dieser Woche Ausschau nach Situationen, in denen deine anfängliche Reaktion hinterfragt werden sollte, vor allem im Verhältnis zu Machtdynamiken!
  6. Meditiere: Stell dir vor, du bist Petrus, als er die Worte hören musste: „Geh fort, hinter mich, Satan!“ Halte in der Stille Ausschau nach Bereichen, in denen dein Denken nicht mit Gottes Wegen im Einklang steht! Stell dir vor, was du Jesus zur Antwort geben willst.