Jesus der Lehrer

  • Sprüche 3,1–26
  • Jeremia 31,31–34
  • Markus 4,1–34

Wer ist Jesus? Würden wir seine Zeitgenossen fragen, bekämen wir viele verschiedene Antworten: ein Heiler, ein Störenfried, ein Befreier, eine Gefahr für Zucht und Ordnung, ein Irrlehrer, ein Prophet, ein Brückenbauer. Seine Freunde und Feinde hätten aber darin übereingestimmt, dass er ein vollmächtiger Lehrer war. Überfliegen wir die Seiten der Evangelien, entdecken wir zudem die Vielfalt, mit der Jesus lehrte.

Erstens unterrichtete er anschaulich durch Zeichen und Wunder. Indem Jesus z.B. Blinde wieder sehend machte, führte er uns Gottes Wunsch vor Augen, unsere verdrehte Sicht des Lebens zu heilen. Indem er Gelähmte wieder gehen liess, zeigte er, wie Gottes Herrschaft schwache oder gefangene Menschen mit neuer Kraft erfüllt. Indem er einen Sturm beruhigte, machte er Gottes Sehnsucht deutlich, Frieden zu stiften. Und durch die Austreibung unreiner Geister enthüllte er Gottes Engagement zur Befreiung der Menschen von Kräften, die sie beherrschen und unterdrücken – seien dies militärische, politische, ökonomische, soziale oder persönliche Kräfte.

Zweitens hielt er so etwas wie öffentliche Vorlesungen. Unmengen von Leuten versammelten sich auf einem Hügel beim See von Galiläa zu dieser Art von Volkshochschule und hörten sich seine Ausführungen an. Ganze Nachbarschaften zwängten sich für seine Lehre in ein einzelnes Haus – und wer nicht mehr reinpasste, versuchte, durch Türen oder Fenster doch noch ein paar Worte mitzubekommen. Menschen kamen von weit her, um seinem Unterricht in der Synagoge beizuwohnen. Oder sie erfuhren, dass er gerade am Ufer des Sees von einem Boot aus die Herzen von Tausenden erwärmte und ihre Köpfe herausforderte, während im Hintergrund Wellen ans Ufer plätscherten und Möwen krächzten.

Drittens lehrte er spontan und überraschend – unterwegs von A nach B bei einer Quelle am Wegrand; bei einem festlichen Nachtessen, als ein ungeladener Gast erschien; auf einem öffentlichen Platz, wenn ihm eine Gruppe seiner Kritiker wieder einmal mit einer Fangfrage eine Falle stellte. Man musste immer auf der Hut sein, denn bei Jesus konnte jeder Moment zu einem lehrreichen Moment werden.

Viertens sparte er viele seiner wichtigsten Lehren für Retraiten und Exkursionen nur mit seinen Jüngern auf. Es war ihm wichtig, sich immer wieder von der Menge zu lösen, damit er diejenigen als Mentor begleiten konnte, die seine Arbeit später fortsetzen sollten. Bestimmte Orte boten dazu ideale Voraussetzungen.

Fünftens lehrte Jesus durch etwas, das wir öffentliche Demonstrationen bezeichnen könnten. Zum Beispiel führte er einen Protestmarsch nach Jerusalem an und gestaltete diesen satirisch als königlichen Einzug. Dabei prangerte er unter Tränen die Ignoranz der Stadt an, die aus den Augen verloren hatte, was dem Frieden dient. Einmal inszenierte er einen Akt bürgerlichen Ungehorsams im Tempel, bei dem er die alltägliche Ordnung aus den Fugen hob und auf dramatische Weise wichtige Anweisungen und Warnungen aussprach. Ein weiteres Mal demonstrierte er – inspiriert von einem kleinen Jungen, der sein Fischsandwich verschenkte – eine alternative Form von Ökonomie, die auf Grosszügigkeit statt auf Gier beruht.

Sechstens liebte es Jesus, durch sorgfältig gestaltete fiktive Kurzgeschichten – so genannte Gleichnisse – zu lehren. Oft leitete er diese Gleichnisse mit folgenden Worten ein: „Wer Ohren hat zu hören, der höre…“ Er wusste, dass die meisten Erwachsenen übliche Nachrichten schnell in Entweder/oder-Schubladen einordnen: einverstanden/nicht-einverstanden, gern/nicht-gern, vertraut/ fremd. Indem sie sich so verhalten, reagieren und argumentieren sie, ohne wirklich zu hören und darüber nachzudenken, was gesagt worden ist. Durch die Gleichnisse forderte Jesus seine Hörer dagegen zum Nachdenken heraus, indem er ihre Vorstellungskraft weckte und sie zur Interpretation einlud statt zur Reaktion und Argumentation. Auf diese Weise versetzte er die Leute in die Position von Kindern, die lieber Geschichten als Argumenten folgen. Durch seine Gleichnisse motivierte er seine Mitmenschen, über bestimmte Themen nochmals nachzudenken. Und dabei durften sie Rückfragen stellen, neugierig bleiben und mehr suchen als nur Zustimmung oder Ablehnung – nämlich Bedeutung.

In all diesen verschiedenen Lehrformen erwies sich Jesus als Meister-Rabbiner, der fähig war, das Leben von den Menschen zu verwandeln durch eine Botschaft von unergründlicher Tiefe und gleichzeitig unerwarteter Anschaulichkeit. Aber was war der Inhalt seiner Botschaft? Um welchen Punkt ging es ihm? Früher oder später kam jedem Zuhörer von Jesus ein Thema zu Ohren, das Jesus immer und immer wieder behandelte: das Königreich Gottes oder das Himmelreich. Leider haben Leute, die heute davon hören, meist überhaupt keine Vorstellung, worum es hierbei ursprünglich ging. Oder noch schlimmer: Manchmal wird dieses Thema total missverstanden, ohne dass es bemerkt würde.

Zum Beispiel meinen viele, dass das Königreich Gottes oder das Himmelreich den Ort bezeichnet, wo gerechte Menschen hinkommen, wenn sie sterben. Oder sie verstehen es als die vollkommene neue Welt, die Gott schaffen wird, nachdem er dieses hoffnungslose Chaos hier zerstört hat. Aber für Jesus war das Himmelreich kein Ort, an den wir eines Tages gehen werden. Sondern es war für ihn eine Wirklichkeit, für die wir beten, dass sie hier und jetzt erfahrbar wird. Für Jesus lag das Königreich Gottes nicht in der weit entfernten Zukunft. Sondern es war in greifbarer Nähe – heute. Um diesen bedeutungsträchtigen Begriff besser verstehen zu können, müssen wir uns bewusst machen, dass Königreich zur Zeit Jesu die dominante soziale, politische und ökonomische Wirklichkeit bedeutete. Heutige Begriffe wie Nation, Staat, Regierung, Gesellschaft, ökonomisches System, Kultur, Grossmacht, Reich und Zivilisation hallen alle in diesem einen Wort wider: Königreich.

Das Königreich – bzw. das Römische Reich –, in dem Jesus lebte und starb war stark hierarchisch strukturiert. Die Wenigen an der Spitze kontrollierten die Vielen am unteren Ende und sorgten durch Belohnung und Strafe für Ordnung. Mittel zur Strafe waren Gefängnis, Verbannung, Folter und Exekution. Und die extremste Form von Folter und Exekution war die Kreuzigung. Sie war für die Rebellen bestimmt, die es wagten, die römische Autorität infrage zu stellten. Und genau durch das Erleiden dieser Strafe – der Kreuzigung – vertraute uns Jesus seine radikalste Lehre an.

Ja, Jesus lehrte grossartige Wahrheiten durch Zeichen und Wunder, öffentliche Vorlesungen, spontane Lehren, spezielle Retraiten und Exkursionen, öffentliche Demonstrationen und Gleichnisse. Aber als er die gewaltvollste Strafe der Römer erduldete, vermittelte er seine gewaltigste Lehre.

Durch seine Kreuzigung entlarvte Jesus die eiskalte Gewalt und die fehlende Legitimation der auf Angst beruhenden Diktatur, von der die meisten Leute meinten, sie sei die beste oder gar einzige Gesellschaftsform für die Menschheit. Stattdessen demonstrierte er eine andere Art von Ordnung – Gottes Königreich – und die revolutionäre Wahrheit, dass diese Art von Ordnung über die Diktatur triumphiert – nicht durch Blutvergiessen, sondern durch gnädige Selbsthingabe zum Wohl seiner Feinde. Er lehrte, dass Gottes Königreich durch scheinbare Schwachheit wächst und nicht durch Eroberung. Es dehnt sich durch Versöhnung aus und nicht durch Demütigung und Einschüchterung. Es triumphiert durch die Bereitschaft, eher zu leiden, als Leiden zu verursachen. Kurz gesagt: Am Kreuz demonstrierte Jesus Gottes gewaltlosen Widerstand gegen die gewalttätigen Mächte der Welt. Er offenbarte Gott als einen König von anderer Art und sein Reich als eine andere Art von Königreich.

Wie könnten wir Jesu radikales und dynamisches Verständnis von Gottes Königreich in unseren heutigen Kontext übersetzen?

Vielleicht käme die Bezeichnung Gottes globaler Staatenbund dem ganz nahe: Eine Welt, die nicht geteilt und beherrscht wird durch Nationen, Korporationen und privilegierte Einzelpersonen, sondern eine Welt, in der es genug hat, dass alle miteinander teilen können. Vielleicht würde Gottes regenerierende Ökonomie als Bezeichnung passen, um als Herausforderung für unsere Ökonomien zu dienen, die auf Wettkampf, Gier und Ausbeutung basieren. Vielleicht könnten die Begriffe Gottes geliebte Gemeinschaft oder Gottes heiliges Ökosystem Jesu Verständnis deutlich machen, weil sie auf eine ehrfurchtsvolle Verbundenheit in dynamischer und kreativer Harmonie hindeuten. Oder vielleicht könnten Gottes nachhaltige Gesellschaft oder Gottes Bewegung für gegenseitige Befreiung die Dynamik dieser radikal neuen Vision von Leben, Freiheit und Gemeinschaft bezeichnen.

Heute wie damals scheint nicht jedermann Interesse zu haben an der guten Nachricht, die Jesus lehrte. Einige interessieren sich mehr für Rache, Abschottung oder den Gewinn von Wettbewerbsvorteilen. Einige sind besessen von Sex, irgendeiner Droge oder anderen Süchten. Viele verlangen verzweifelt nach Ruhm oder Reichtum. Wieder andere können an nichts anderes mehr denken als an die Erlösung von ihrem momentanen Schmerz. Aber selbst unter den hässlichsten dieser Begierden können wir oft einen Funken von etwas Reinem, etwas Gutem, etwas Heiligem finden – ein erstes Verlangen nach Lebendigkeit, das zu einem Eintrittstor werden kann in das Königreich Gottes.

Interessanterweise wurde bereits im Johannesevangelium – das einige Jahre nach den anderen Evangelien geschrieben worden ist – der Begriff Gottes Königreich in andere Begriffe übersetzt: Leben, ewiges Leben, Leben in Fülle. In ihnen allen hallt dieses Wort Lebendigkeit wider. Wie auch immer wir es benennen – Königreich Gottes, Leben in Fülle, Gottes globaler Staatenbund, Gottes nachhaltige Gesellschaft oder heilige Lebendigkeit – es ist das Eine im Leben, das am meisten wert ist, gesucht zu werden. Denn wenn wir dieses Eine suchen, werden wir auch alles andere finden, das wert ist, angestrebt zu werden.

Lebendig sein im Abenteuer Jesu bedeutet, zuerst das Königreich und die Gerechtigkeit Gottes zu suchen. Es bedeutet, ein Erforscher des einen grossartigen Themas zu sein, das Jesus auf so vielfältige kreative Weise gelehrt hat.

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle eine Geschichte über die wichtigsten Lehrer in deinem Leben und schildere, was diese Personen so bedeutungsvoll für dich werden liess.
  3. Wie reagierst du auf die Erklärung des Begriffs Königreich Gottes? Wie würdest du ihn in die heutige Sprache oder Bilderwelt übersetzen?
  4. Für Kinder: Wie wird ein Lehrer zu einem guten Lehrer? Wer ist euer Lieblingslehrer?
  5. Werde aktiv: Notiere diese Woche, wo du Lebendigkeit suchst und findest. Beziehe diesen Durst nach Lebendigkeit auf Gottes Königreich.