4. Advent: Unerwartete Menschen

  • Ps 34,1-18
  • Mt 1,1-17
  • Lk 2,8-20

Und Abraham zeugte Isaak, und Isaak zeugte Jakob, und Jakob Für moderne Leser scheinen die Ahnentafeln, die in der Bibel so üblich sind, ziemlich langweilig und witzlos. Doch für die Menschen in der Antike waren sie voll von Bedeutung. Sie waren kurzgefasste Darstellungen des sozialen Netzwerks. Sie zeigten auf, mit wem jemand verbunden war und erinnerten einen an seine Herkunftsgeschichte.

Matthäus wie auch Lukas präsentieren uns Ahnentafeln von Jesus. Obwohl die Listen sehr verschieden sind, stimmen beide in zwei entscheidenden Punkten überein: erstens darin, dass Jesus ein Nachkomme von Sarah und Abraham war. Das erinnerte die Leute an Gottes ursprüngliche Verheissung an Abraham und Sarah, dass durch ihre Nachkommen alle Geschlechter der Erde gesegnet würden (Gen 28,14). Und zweitens stimmen sie darin überein, dass Jesus ein Nachkomme des Königs David war. Das weckte die nostalgischen Gedanken über das goldene Zeitalter von Davids Königsherrschaft und erinnerte an all die Hoffnungen der Propheten auf eine verheissene Zeit, in der ein Nachkomme Davids voller Güte einmal herrschen würde.

Neben diesen Gemeinsamkeiten enthalten die beiden Stammbäume verschiedene Schätze. Das Lukasevangelium beginnt mit der damaligen Gegenwart und geht von da an rückwärts über Abraham bis zu Adam, dem ersten Menschen in der biblischen Geschichte: „ein Sohn Henochs, der ein Sohn Jereds war, der ein Sohn Mahalalels war, der ein Sohn Kenans war, der ein Sohn des Enosch war, der ein Sohn Sets war, der ein Sohn Adams war, der Gottes Sohn war.“ Die Bezeichnung als „Gottes Sohn“ in diesem Zusammenhang ist faszinierend! Es weist auf die anfängliche Bedeutung dieser Bezeichnung hin: Sohn von… zu sein, bedeutet, „seinen Ursprung auf… zurückzuführen“. Dass der Stammbaum Jesu über Adam hinaus auf Gott zurückgeführt wird, drückt aus, dass Jesus eine Art Neuanfang für die Menschheit darstellt – sozusagen eine neue Schöpfung ist. Genauso wie Adam als ursprünglicher Mensch nach Gottes Abbild geschaffen worden ist, so wird auch Jesus das Bild Gottes widerspiegeln. Man könnte sagen, Jesus sei der Adam 2.0.

Diese Interpretation wird durch die Geschichte bekräftigt, die direkt vor der lukanischen Fassung des Stammbaums Jesu liegt: Dort wird erzählt, wie eine Stimme vom Himmel kam, die sagte: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir fand ich Gefallen“ (Lk 3,22). Wie die Bezeichnung Jesu als Sohn Davids uns erwarten lässt, dass Jesus das Vorbild für Leiterschaft ist, und wie die Bezeichnung Jesu als Sohn Abrahams uns erwarten lässt, dass Jesus das Vorbild des Segens und der Verheissung für alle ist, so lässt uns die Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes erwarten, dass Jesus das Vorbild für wahres Menschsein ist, wie es einst Adam war.

Matthäus‘ Version des Stammbaums, die sich von der weit entfernten Vergangenheit zur Gegenwart hin bewegt, beinhält ebenfalls viele Schätze. Am Überraschendsten ist seine Erwähnung von fünf Frauen. In der Antike wussten die Menschen noch nichts von der menschlichen Eizelle, sondern gingen davon aus, dass das Leben aus dem Samen des Mannes allein entstand. Deshalb fokussierten sich die Ahnenlisten natürlicherweise auf die Männer. Doch erstaunt bei Matthäus nicht nur die Erwähnung von Frauen überhaupt, sondern genauso erstaunlich ist die Wahl der Frauen, die er erwähnt.

Da ist zum einen Tamar, die sich als Prostituierte ausgab in einem Netz von sexuellen und familiären Intrigen. Dann wird Rahab erwähnt – eine Heidin aus Jericho, die tatsächlich eine Prostituierte war. Darauf kommt Ruth, eine weitere Heidin, die eine sexuelle Verbindung mit dem reichen Juden Boas einging. Die nächste ist Batseba, die mit einem Ausländer verheiratet war – mit Uria, dem Hethiter –, und mit der König David Ehebruch beging. Und schliesslich wird Maria erwähnt, die ohne Joseph schwanger wurde. Das ist nicht gerade die Art von Frauen, deren Namen normalerweise in eine Ahnenliste eingetragen werden!

Aber das ist natürlich genau der Punkt von Matthäus. Jesus kommt nicht aus einem idealen Volk mit einem makellosen Stammbaum daher. In ihm finden sich die Geschichten der Juden und der Heiden, der zerrütteten und chaotischen Familien wie auch der noblen, des einfachen Volkes wie auch der Könige, Priester und Helden. Man kann deshalb sagen, dass Jesus nicht von oben herab in die Menschheit eintritt mit einer Art von herablassender Gnade, sondern uns ganz unten begegnet mit einer Art von Gnade, die von unten her kommt und auferbaut.

Dieses Thema ist wunderschön verkörpert in den unbesungenen Helden von Lukas‘ Weihnachtgeschichte, den Hirten. Sie sind es, die mit Maria und Joseph in der ersten Reihe derer sitzen, welche die gute Nachricht der „grossen Freude, die für das ganze Volk sein wird“ (Lk 2,10) empfangen. Sie sind die bodenständigen Menschen, welche die himmlische Ankündigung der Engel hören.

Hirten waren Menschen am Rand der Gesellschaft – ähnlich wie Tamar, Rahab, Ruth, Batseba und Maria. Sie waren keine normalen Familienmenschen. Denn sie verbrachten die meiste Zeit im Freien, behüteten die Schafe vor den Wölfen und Dieben und zogen mit ihren Tieren von Wiese zu Wiese. Ein jüngerer Sohn zum Beispiel, der keine Aussicht darauf hatte, den Hof seiner Eltern zu erben, konnte sich als Schäfer durchzubringen versuchen. Ebenso ein Mann, für den aus irgendeinem Grund eine Heirat ausgeschlossen war.

In der Bibel haben die Armen einen speziellen Platz inne. Die Priester und Propheten Israels stimmten darin überein, dass Gott seine Aufmerksamkeit speziell den Armen zuwendet. Gott befahl allen Wohlhabenden, grosszügig mit ihnen zu sein. Den Landlosen wurde erlaubt, dass sie auf den Feldern der Reichen die Nachlese halten. Im Buch der Sprüche in der Bibel heisst es, dass die, welche die Armen ausbeuten oder sich nicht um sie kümmern, nicht erfolgreich sein werden, dass aber die, welche gut zu den Armen sind, gesegnet werden.

Ganz zentral waren die Armen im Leben und Dienen Jesu. Jesus erkannte sich selbst als bevollmächtigt durch den Geist, um den Armen gute Nachricht zu bringen. In seinen Gleichnissen sorgt sich Gott um die Armen und stellt sich gegen die Reichen, die den Armen kein Mitgefühl zeigen. Jesus forderte die Reichen auf, grosszügig mit den Armen zu sein. Und selbst wenn andere die Armen als Verfluchte mieden, betrachtete Jesus die Armen und ihre Freunde als Gesegnete. Als Jesus sagte: „Die Armen habt ihr allezeit bei euch“ (Mk 14,7), spielte er auf die Aussage in Dtn 15,4 an, wo es heisst: „Doch eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben“, denn in Gottes Schöpfung hätte es eigentlich genug für alle.

Obwohl sich seit der Zeit Jesu viel verändert hat, ist dies gleich geblieben: Ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung lebt in Luxus und die grosse Mehrheit lebt in Armut. Ein Beispiel: Etwa die Hälfte der Menschen unserer Welt bestreitet ihr Leben mit weniger als $ 2.50 pro Tag. Von etwa sieben Milliarden muss eine Milliarde Menschen mit $ 1.25 auskommen. Etwa die Hälfte der Menschen in Afrika unterhalb der Sahara und über 35% der Menschen in Südostasien gehören zu dieser Gruppe. Sie sind die heutigen Hirten, die auf Reisfeldern arbeiten, in die Slums strömen, auf den Gehsteigen schlafen und ums Überleben kämpfen.

So lasst uns eine Kerze für unerwartete Menschen wie die Frauen in den Ahnentafeln und die Hirten in der Antike anzünden – und ihre heutigen Gegenstücke: alle an den Rand Gedrückten, Enteigneten, Verletzlichen, nach guter Nahrung Hungernden, nach trinkbarem Wasser Dürstenden, die sich danach sehnen zu hören, dass sie nicht vergessen sind. Lasst uns an ihrer Nachtwache teilnehmen – warten auf die gute Nachricht der grossen Freude, die für das ganze Volk sein wird, für das GANZE Volk, für ALLE Völker. Amen

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle eine Geschichte über einen düsteren oder farbenfrohen Charakter aus deiner Familie.
  3. Wie reagierst du auf ein solches Verständnis von Sohn Gottes?
  4. Für Kinder: Stell dir vor, du wärst ein Schafhirte in der Zeit Jesu. Was denkst du, wie das Leben damals war?
  5. Werde aktiv: Halte diese Woche Ausschau nach unerwarteten Personen, denen du ungewohnten Respekt und unerwartete Freundlichkeit entgegenbringen kannst.
  6. Meditiere: Zünde eine Kerze an und bewahre in Gottes Gegenwart die Worte „gute Nachricht der grossen Freude für das ganze Volk“ in deinem Herzen. Beende diese Zeit der Stille mit einem Gebet.