Lasst Herodes in der Weihnachtsgeschichte

  • Jer 32,31-35
  • Micha 5,2-5a
  • Mt 1,18-2,15

Genau in der Mitte von Matthäus‘ Version der Weihnachtsgeschichte kommt ein Schock. Es ist verwirrend, erschreckend und grässlich! Und es ist wesentlich, um das Abenteuer und die Mission Jesu zu verstehen.

König Herodes, auch Herodes der Grosse genannt, herrschte über Judäa in den Jahren vor der Geburt Jesu. Obwohl er den Tempel in Jerusalem – ein Wahrzeichen der jüdischen Identität – wieder aufbaute, war er ein Marionettenkönig, dessen Macht vom römischen Reich abhängig war. Er war ein Mann mit einer Identitätskrise – wie viele biblische Charaktere und wie viele von uns. Grausam und rücksichtslos setzte er Sklaven für seine riesigen Bauprojekte ein. Er hatte den Ruf, jeden umbringen zu lassen, der ihm bedrohlich schien – unter anderem seine Frau und zwei seiner Söhne. In seiner Spätzeit hörte er Gerüchte… Gerüchte, dass der lang ersehnte Befreier geboren worden sei, den Jesaja und andere prophezeit hatten. Ein frommer Mensch hätte mit Hoffnung und Freude auf eine solche Nachricht reagiert. Doch Herodes sah nur die Bedrohung, die Bedrohung der politischen Stabilität und somit seiner eigenen Herrschaft.

In den davorliegenden Jahren hatte es viele Widerstände gegeben, Unruhen und Revolten in Jerusalem, sodass Rom nicht gerade tolerant gestimmt war. Herodes wusste, dass schon jede Rede über Rebellion einen verheerenden Vergeltungsschlag gegen die Stadt nach sich ziehen würde. Deshalb befragte er die religiösen Gelehrten um herauszufinden, ob die heiligen Texte irgendeinen Hinweis darauf enthielten, wo dieses lang ersehnte Kind geboren werden sollte. Ihre Antwort stammte aus dem Buch des Propheten Micha: Bethlehem.

Herodes tat, was ein verzweifelter, rücksichtsloser Diktator tun würde: Zuerst versuchte er, fremde Mystiker – bei uns bekannt als die drei Weisen aus dem Morgenland – für sich zu gewinnen. Er wollte sie als Spione verwenden, damit sie ihm helfen würden, die Identität und den Aufenthaltsort des Kindes auszumachen, um so das Kind töten zu können. Aber die Weisen wurden in einem Traum vor seiner Täuschung gewarnt und konnten so verhindern, unwillentlich zu seinen Komplizen zu werden. Als Herodes merkte, dass sein erster Plan misslungen war, ging er zu Plan B über: Er sandte seine Spiessgesellen aus. Sie sollten jeden jungen Knaben, der in der Gegend Bethlehems lebte, ausfindig machen und töten. Doch der eine Knabe, den er suchte, war schon wieder aus Bethlehem verschwunden und anderswo hingebracht worden.

Das Resultat? Ein Massacker an unschuldigen Kindern in Bethlehem. Wie es bei vielen biblischen Geschichten der Fall ist, bezweifeln auch hier viele Gelehrte, dass dieser Massenmord tatsächlich stattgefunden hat, da er in keinem anderen Zeugnis jener Zeit erwähnt wird. Andere argumentieren, dass Bethlehem nur eine kleine Stadt war, sodass die Gesamtzahl der Opfer etwa zwischen zwanzig und dreissig lag – Diktatoren haben Wege, ihre Gräueltaten geheim zu halten (genauso wie sie Wege haben, ihre Heldentaten bekannt zu machen). Wie es auch immer um die Historizität des Kindermordes in Bethlehem stehen mag, mit Sicherheit wissen wir, dass Herodes einige seiner eigenen Kinder ermorden liess, als er seine Pläne durch sie bedroht sah. Selbst wenn also unsere Geschichte in der heutigen Form erfunden ist, finden sich doch Anklänge an historische Ereignisse in ihr. Zudem liegt ihr eine tiefere Wahrheit zugrunde, die uns auch heute noch viel zu sagen hat.

Die Ermordung unschuldiger Kinder durch König Herodes spiegelt das schreckliche Verhalten des Pharaos, das im zweiten Buch Mose (Ex 1,15-16.22) beschrieben wird: Herodes, der als Jude Nachkomme von ehemaligen Sklaven unter dem Pharao in Ägypten war, verhält sich nun selbst wie ein Sklaventreiber. Die Geschichte von Herodes erzählt einmal mehr, dass die Welt nicht einfach in gute Menschen (wir) und böse Menschen (sie) aufgeteilt werden kann. Denn auch Leute von uns werden sich wie Herodes nicht anders als sie verhalten, sobald sie die Macht und den Anlass dazu haben. Alle Menschen stehen vor derselben tiefgreifenden Frage: Wie gebrauche ich meine Macht? Wie gehe ich mit Gewalt um?

Herodes und Pharao stellen einen Weg dar: Gewalt ist einfach ein Werkzeug, das man dazu einsetzen kann, um zusätzliche Macht zu gewinnen oder sie zu bewahren. Der Säugling, den Herodes zu töten versucht, stellt einen anderen Weg dar: Sein Werkzeug wird nicht Gewalt sein, sondern sein Dienst. Und sein Ziel ist es nicht, noch mehr Macht zu gewinnen, sondern seine vorhandene Macht dafür einzusetzen, dass andere heil und mit Vollmacht ausgerüstet werden. In diesem Säugling offenbart sich Gott auf eine Weise, die mehr der Verletzlichkeit von Kindern als der Gewalt von Männern, mehr der Fürsorge von Müttern als der Grausamkeit von Königen entspricht.

All dies klingt noch ziemlich abstrakt und theoretisch. Doch gleich wird es konkreter: Der nächste Krieg – wer auch immer darin verwickelt sein wird – wird mit grösster Wahrscheinlichkeit allen vergangenen Kriegen ähnlich sein. Er wird von mächtigen, älteren Männern in komfortablen Büros geplant und durch Menschen im Alter ihrer Kinder und Enkel ausgefochten werden. Die meisten Verluste werden vermutlich unter den Achtzehn- bis Zweiundzwanzigjährigen zu beklagen sein – in manchen Gebieten sogar unter noch Jüngeren. So wird die alte, traurige Musik der antiken Geschichte von Herodes und dem Kindermord einmal mehr gespielt werden. Und wieder werden sich die Tränen der Mütter ergiessen.

Die Opferung von Kindern für das Wohlergehen und die Sicherheit von Erwachsenen hat eine lange Geschichte unter den Menschen. Kinderopfer zur Befriedigung des Zorns der Götter finden sich in verschiedenen Kulturen. Ausgehend von der Geschichte von Abraham und Isaak entdecken wir im Gegensatz dazu, dass der wahre Gott überhaupt keine Befriedigung nötig hat. Nein, Gott steht für wahres, liebendes, reifes Eltern-Sein – Selbsthingabe zum Wohl der eigenen Kinder, nicht Opferung der Kinder für die eigenen selbstsüchtigen Interessen!

Deshalb ist es so wichtig, mit unserem Glauben und unserem Verständnis von Gott zu ringen. Fördert oder fordert Gott unserer Ansicht nach etwa Gewalt? Anerkennt Gott die Opferung von Kindern zum Wohl von Erwachsenen? Wird Gott am besten durch das Bild eines mächtigen, alten Mannes dargestellt, der die verletzlichen Jungen aussendet, um für ihn zu sterben? Oder erkennt man Gott nicht am besten im Bild eines auf Hilfe angewiesenen Säuglings, weil Gott sich mit den Opfern der Mächtigen identifiziert, indem er ihre Verletzlichkeit teilt – voller Zerbrechlichkeit, aber mit grenzenlosen Versprechen?

Wir leben nicht in einer idealen Welt. Im Abenteuer Jesu lebendig zu sein, bedeutet, sich jederzeit der zerstörerischen Wirklichkeit der Gewalt zu stellen. Lebendig zu sein im Abenteuer Jesu, heisst, sich auf die Seite der verletzlichen Kinder zu stellen – den Erwachsenen entgegen, die jene als entbehrlich erachten. Mit Jesus unterwegs zu sein, bedeutet, den Mächtigen Zustimmung und Zusammenarbeit zu verweigern und sich stattdessen in die Verletzlichen zu investieren. Es bedeutet, sich nicht vor den verschiedenen Herodes unserer Zeit mit ihrem rücksichtslosen System zu beugen, sondern seine Loyalität für einen besseren König mit einem besseren Königreich aufzubewahren.

Jesus ist wirklich gekommen. Doch jedes Jahr machen wir uns in der Adventszeit neu bewusst, dass der Traum, für den Jesus alles hingegeben hat, noch nicht vollständig verwirklicht ist. Solange die Führungseliten Gewalt anzetteln, solange Kinder den Preis dafür bezahlen und solange Mütter weinen, können wir nicht zufrieden sein!

So lasst uns eine Kerze für die Kinder unserer Welt anzünden, die wegen gierigen und machthungrigen, aber unsicheren Führungspersonen leiden. Und lasst uns eine Kerze für trauernde Mütter – in der Vergangenheit und der Gegenwart – anzünden, die ihre Söhne und Töchter verloren haben. Lasst uns ebenso eine Kerze für alle Menschen anzünden, die das Weinen jener hören. In dieser Adventszeit wagen wir zu glauben, dass Gott ihren Schmerz kennt, mit ihnen mitfühlt und ihnen nahekommt, um sie zu trösten. Wenn ich glaube, dass dies so ist, dann kann ich nicht anders, als mich Gott anzuschliessen und mit ihm zusammen diesen Menschen nahezukommen.

Aus diesem Grund müssen wir Herodes und seinen schrecklichen Massenmord in der wunderschönen Weihnachtsgeschichte behalten.

 

Mach mit

  1. Welcher Gedanke oder welche Idee der heutigen Lektion hat dich speziell fasziniert, provoziert, verwirrt, herausgefordert, ermutigt, erwärmt, gewarnt, gestärkt oder überrascht?
  2. Erzähle eine Geschichte aus deiner Kindheit, als dir eine erwachsene Person (eigene Eltern ausgenommen) grossen Respekt oder Zuneigung gezeigt hat.
  3. Wie reagierst du auf Matthäus‘ Entscheidung, die Geschichte von Herodes in die Weihnachtsgeschichte aufzunehmen, obwohl kein anderer Evangelist sie erzählt?
  4. Für Kinder: Wenn du einen Wunsch bei den Erwachsenen frei hättest, um Kindern zu helfen, was würdest du wünschen?
  5. Werde aktiv: Versuche in dieser Woche persönliche oder politische Situationen aus dem Blickwinkel zu betrachten, in welcher Weise sie auf Kinder und ihre Mütter einwirken.
  6. Meditiere: Zünde eine Kerze an und betrachte innerlich das Bild von Herodes – rücksichtslos und machtgierig – und das Bild von Jesus, dem verletzlichen Säugling. Nimm wahr, was in deinem Herzen geschieht und drücke deine Antwort darauf in einem Gebet aus.